Mit dem neuen » Leitfaden "Umsetzung des Arten- und Habitatschutzes bei der Planung und Genehmigung von Windenergieanlagen in NRW" will das Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz NRW (MKULNV) einen weiteren Beitrag zur Beschleunigung der Energiewende in Nordrhein-Westfalen leisten und zeigen, "dass der dringend notwendige Ausbau der Windenergienutzung im Einklang mit dem Naturschutz möglich ist". Der Leitfaden wurde im November 2013 durch » Runderlass allen Unteren (Kreise und kreisfreie Städte) und Höheren Landschaftsbehörden (Bezirksregierungen) des Landes zur Beachtung im Rahmen ihrer Verwaltungspraxis zugeleitet mit dem Ziel, die Verwaltungspraxis bei der Zulassung von Windenergieanlagen (WEA) zu vereinheitlichen sowie eine rechtssichere Planung und Genehmigung von WEA in Nordrhein-Westfalen zu gewährleiten.
Der Leitfaden ist einem Thema gewidmet, das auch die Naturschutzverbände sehr beschäftigt - sind doch die mit dem Bau und Betrieb von WEA verbundenen Konflikte mit Natur und Landschaft unumstritten. Die angestrebte Standardisierung der Verwaltungspraxis und damit verbunden insbesondere des faunistischen Untersuchungsrahmens bei WEA-Planungen wurde von den Naturschutzverbänden eingefordert und ist aus ihrer Sicht ausdrücklich zu begrüßen. Im Rahmen der Verbandsbeteiligung haben die nordrhein-westfälischen Naturschutzverbände Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Landesgemeinschaft Naturschutz und Umwelt (LNU) und Naturschutzbund Deutschland (NABU) jedoch zugleich die Bedenken geäußert, dass mit den nun veröffentlichten Standards dem naturschutzfachlichen Vorsorgegedanke nicht angemessen Rechnung getragen wird und die Standards teils hinter dem naturschutzfachlich Erforderlichen zurückbleiben.
Das MKULNV hat bei der gemeinsam mit dem Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz NRW (LANUV) erfolgten Erarbeitung eine Reihe von Anregungen der Naturschutzverbände aufgenommen und in dem jetzt veröffentlichten Leitfaden berücksichtigt. Aus Sicht der Verbände stehen aber weiterhin verschiedene Aspekte des Leitfadens dem "Einklang mit dem Naturschutz" entgegen. Damit ist zu befürchten, dass der Bau von Windenergieanlagen vielfach zu Lasten der biologischen Vielfalt erfolgen wird.
Der Leitfaden soll alle drei Jahre evaluiert und entsprechend fortgeschrieben werden. Hinsichtlich der Auswahl der WEA-empfindlichen Arten wird darauf hingewiesen, dass bei einem verbesserten Kenntnisstand entsprechende Anpassungen notwendig werden können. Es bleibt zu hoffen, dass an dieser Stelle Wort gehalten wird und man dadurch dem Ziel der Vereinbarkeit von Klima- und Naturschutz näher kommt. Die in NRW anerkannten Naturschutzverbände sind bereit, sich aktiv in einen steten Evaluierungsprozess einzubringen.
Bis dahin sind die im Leitfaden unberücksichtigt gebliebenen zentralen Kritikpunkte der Naturschutzverbände im Blick zu halten; sie betreffen den Schutz von Natura 2000-Gebieten, die Auslegung des Helgoländer Papiers der Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten (LAG-VSW), die Auswahl windenergiesensibler Brutvogelarten und die Auslegung des Tötungsverbots nach § 44 BNatSchG.
Schwächung des Schutzes von Natura 2000-Gebieten
(vgl. Kap. 2.1 FFH-Verträglichkeitsprüfung)
Im Zusammenhang mit der Darstellung der naturschutzrechtlichen Grundlagen zur FFH-Verträglichkeitsprüfung (FFH-VP) wird im Leitfaden die Fragestellung thematisiert, was unter einem „Projekt“ zu verstehen sei. Da die Erforderlichkeit einer FFH-VP nach § 34 Abs. 1 BNatSchG nur für „Projekte“ bestehen kann, erweckt der Leitfaden an dieser Stelle den Eindruck, es ginge bei WEA-Planungen zunächst um die Frage, ob diese überhaupt als Projekt zu werten seien, und somit, ob überhaupt eine Prüfung der Verträglichkeit mit dem Natura 2000-Schutzregime notwendig sei. Das Aufbringen einer solchen Diskussion ist aus Sicht der Naturschutzverbände völlig unverständlich, eine Schwächung des Natura 2000-Gebietsschutzes bei Anwendung des Leitfadens zu befürchten. Es ist – auch nach der im Leitfaden zitierten – Rechtsprechung und Literatur anerkannt, dass im Interesse des effektiven Schutzes der Projektbegriff weit zu fassen ist. Erfasst werden sollen alle Aktivitäten, die ein Schutzgebiet beeinträchtigen könnten. Dass hierunter auch WEA fallen, steht aus Sicht der Naturschutzverbände außer Frage. Erst in einem zweiten Prüfschritt ist das „Projekt“ auf sein Beeinträchtigungspotential hin zu untersuchen.
Falsche Auslegung des Helgoländer Papiers der Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten (LAG-VSW)
(vgl. Kap. 2.2 Naturschutzfachliche Grundlagen)
Nach dem Leitfaden sollen die im » Helgoländer Papier erfolgten Abstandsempfehlungen keine Tabuzonen bei der Festlegung des Standorts darstellen. Stattdessen soll innerhalb dieses Radius mithilfe einer Raumnutzungskartierung eine Standortwahl für die WEA vorbereitet werden können. Aus Sicht der Naturschutzverbände ist dies eine falsche Darstellung der fachlichen Empfehlungen der LAG-VSW. Die empfohlenen "Ausschlussbereiche" sind klar als Tabuzone zu verstehen, weitergehende Untersuchungen bei Vorkommen WEA-empfindlicher Arten innerhalb dieses Bereichs sind danach überflüssig. Innerhalb des weiter gefassten "Prüfbereichs" sind die regelmäßig genutzten Nahrungshabitate und Flugkorridore zu ermitteln, die ebenfalls freizuhalten sind. Eine Raumnutzungskartierung ist aus Sicht der Naturschutzverbände in den Fällen geboten, in denen Vorkommen von WEA-empfindlichen Arten außerhalb des „Ausschlussbereichs“, jedoch innerhalb des „Prüfbereichs“ um eine geplante WEA herum kartiert wurden.
Unzureichende Auswahl WEA-empfindlicher Brutvogelarten
(vgl. Kap. 3 WEA-empfindliche Arten/ Artengruppen in NRW, Anhang 4)
Die hinter dieser Auswahl stehende Methodik wird im Leitfaden nicht näher erläutert. Neben einschlägiger Fachliteratur und dem Helgoländer Papier der LAG-VSW wurden Daten zu Kollisionsopfern aus der zentralen Fundkartei der Staatlichen Vogelschutzwarte im Landesamt für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz Brandenburg "nach einheitlichen Kriterien ausgewertet". Daraus ergibt sich eine Liste von WEA-empfindlichen Arten (Anhang 4 des Leitfadens). Für alle anderen Arten gilt nach dem Leitfaden die Regelfallvermutung, artenschutzrechtliche Zugriffsverbote würden aufgrund von betriebsbedingten Auswirkungen "grundsätzlich nicht ausgelöst". Jedoch hat » Illner (2012) – auch als einschlägige Fachliteratur im Leitfaden zitiert – das Kollisionsrisiko der einzelnen Arten, die in der zentralen Fundkartei gelistet sind, unter Berücksichtigung von weiteren Faktoren wie der Fundwahrscheinlichkeit, analysiert und geschätzt. Dabei klassifiziert Illner das Kollisionsrisiko in 5 Stufen von 1 - sehr gering bis 5 - sehr hoch.Geht man von der Erläuterung des Leifadens aus „Bestimmte Arten gelten als überdurchschnittlich gefährdet, diese werden als […] WEA-empfindliche Arten bezeichnet.“, dann sollten hier zumindest die Stufen 4 und 5 vertreten sein. Danach würden weitere acht Arten in die Liste der WEA-empfindlichen Brutvögel aufgenommen (Mäusebussard, Kolkrabe, Turmfalke, Raubwürger, Sperber, Habicht, Wespenbussard, Höckerschwan). Für diese Vogelarten kann daher nicht pauschal von einer Regelfallvermutung ausgegangen werden, nach der keine artenschutzrechtlichen Zugriffsverbote in Folge von betriebsbedingten Auswirkungen von WEA zu erwarten sind. Mindestens diese Arten wären aus Sicht der Naturschutzverbände ebenfalls in die Liste der WEA-empfindlichen Vogelarten sowie in die Liste der vom Tötungstatbestand betroffenen Arten zu übernehmen und im Rahmen der WEA-Planungen entsprechend zu berücksichtigen.
Unzulässige Relativierung des Tötungsverbots nach §44 BNatSchG
(vgl. Kap. 4.4 Verbot Nr. 1, Anhang 4)
Wie der Leitfaden selbst betont, ist der Tötungstatbestand individuenbezogen auszulegen, wobei sich für dessen Verwirklichung - auch im Zusammenhang mit WEA-Planungen - das Kollisionsrisiko für Individuen geschützter Arten durch das jeweilige Vorhaben „in signifikanter Weise“ erhöhen muss. Doch kommt man im Leitfaden dann zu der Annahme, dass die "signifikante" Erhöhung aus naturschutzfachlicher Sicht nur dann zutrifft, wenn die betroffene lokale Population gefährdet ist. Weiter kommt man zu dem Schluss, bei häufigen und weitverbreiteten Arten können Verluste einzelner Individuen im Regelfall nicht zu einem Verstoß gegen das Tötungsverbot führen. Einer solchen populationsbezogenen Relativierung nach dem Motto „wer häufiger lebt, stirbt eben häufiger“ ist das Tötungsverbot jedoch nicht zugänglich. In Bezug auf die Zwergfledermaus heißt es: „Aufgrund der Häufigkeit können bei dieser Art Tierverluste durch Kollisionen an WEA grundsätzlich als allgemeines Lebensrisiko im Sinne der Verwirklichung eines sozialadäquaten Risikos angesehen werden.“ Nur bei WEA-Planungen innerhalb eines 1 km-Radius um bekannte Wochenstuben mit mindestens 50 reproduzierenden Weibchen sei einzelfallbezogen darzulegen, dass kein signifikant erhöhtes Kollisionsrisiko besteht. Dementsprechend wird die Zwergfledermaus auch nicht in die Liste der vom Tötungstatbestand betroffenen Arten aufgenommen. Stattdessen gilt hier die Regelfallvermutung keiner signifikanten Erhöhung des Tötungsrisikos durch WEA und dies, obwohl im Leitfaden Brinkmann et al. (2011) und Dürr (2012) zitiert werden, nach denen die Art als WEA-empfindlich einzustufen ist.
Diese im Leitfaden empfohlene Vorgehensweise ist aus Sicht der Naturschutzverbände äußerst bedenklich, da hier artenschutzrechtliche Verstöße zugunsten des Windenergieausbaus billigend in Kauf genommen werden. Verstöße gegen das artenschutzrechtliche Tötungsverbot sind im Hinblick auf sämtliche im Untersuchungsgebiet angetroffenen Individuen geschützter Arten und deren Aktivität im Gebiet zu prüfen. Die Abhängigkeit einer solchen Prüfung von der Kenntnis eines individuenreichen Wochenstubenquartiers ist nicht sachgerecht. Im Zusammenhang mit diesem Vorgehen hinsichtlich des Tötungsverbots ist auch die Empfehlung des Leitfadens, das Forschungsprojekt von Brinkmann et al. (2011) als Hilfestellung zu nutzen (Kap. 2.2), kritisch zu beurteilen. Dieses Forschungsprojekt kann aus Sicht der Naturschutzverbände keinen geeigneten Standard zur Vermeidung des Tötungstatbestandes darstellen, solange die betriebsbedingte Tötung von Fledermäusen durch WEA rechnerisch nicht ausgeschlossen ist. Sollten in der Praxis betriebsbedingte Tötungen rein rechnerisch in Kauf genommen werden, muss dies nicht nur in Bezug auf das Individuum hinterfragt werden, sondern insbesondere im Kontext mit Summationswirkungen durch mehrere WEA in einem Windpark und generell durch mehrere Windparks zum Ausbau der Windenergie. Derart eingeplante Tötungen sind nicht als "unvermeidbar" anzusehen und widersprechen klar dem Tötungsverbot.
Tipps für die Stellungnahmen zu WEA-Planungen
Neben den vorgenannten Kritikpunkten ist in der nun folgenden Anwendung des Leitfadens im Rahmen konkreter WEA-Planungen zudem der nach diesem Leitfaden in der Regel anzuwendende Untersuchungsumfang in den konkreten Verfahren aus naturschutzfachlicher Sicht zu hinterfragen. Hierbei können folgende Veröffentlichungen hilfreich sein:
- Untersuchungsmethodik Brutvögel
Südbeck, P., Andretzke, H., Fischer, S., Gedeon, K., Schikore, T. Schröder, K. & C. Sudfeldt (2005): Methodenstandards zur Erfassung der Brutvögel Deutschlands. Radolfzell. - Raumnutzungskartierung
Langgemach, T. & B.-U. Meyburg (2011): Funktionsraumanalysen - ein Zauberwort der Landschaftsplanung mit Auswirkungen auf den Schutz von Schreiadlern (Aquilapomarina) und anderen Großvögeln. Ber. Vogelschutz 47/48: 167-181. online unter: http://www.raptor-research.de/pdfs/a_sp100p/a_sp155_Langgemach_BerVogelschutz_2011_Landschaftsplanung.pdf - Abstandsempfehlungen und Untersuchungsgebietsgröße Avifauna (Helgoländer Papier)
Länderarbeitsgemeinschaft der Vogelschutzwarten (LAG-VSW) (2007): Abstandsregelungen für Windenergieanlagen zu bedeutsamen Vogellebensräumen sowie Brutplätzen ausgewählter Vogelarten. In: Berichte zum Vogelschutz, Heft 44 (2007); in der überarbeiteten Fassung verfügbar unter http://www.vogelschutzwarten.de/downloads/lagvsw2015_abstand.pdf - Untersuchungsumfang Fledermäuse
Landesfachausschuss Fledermausschutz NRW (LFA Fledermausschutz) (2013): Anforderungen an Fledermausuntersuchungen für Windenergieanlagen und Windparks (einschl. Repowering). Stand: 21.03.2013.